Die Autobahnkapelle ohne Autobahn
1964 errichtete der Kapellbauverein einer kleinen münsterländischen Ortschaft die erste und bis heute einzige “Kraftfahrerkapelle” ohne Autobahnbezug. Die St. Christophorus-Kapelle an der B64 in Telgte-Raestrup ist ein Gedenkort für Verkehrs- und Unfalltote.
Von Ulli Tückmantel
Münster/Warendorf. Wolfgang Appelhans wurde nur fünf Jahre alt. Der Junge aus Harsewinkel starb am 26. März 1964 in seinem Heimatort bei einem Verkehrsunfall. Zwei Tage später kam die pensionierte Lehrerin Maria Liel in Münster im Straßenverkehr ums Leben. Sie wurde 77 Jahre alt. Weitere drei Tage später starb der 79jährige Rentner Richard Stein ebenfalls in Münster bei einem Autounfall. Drei von 3000 Namen. Sie stehen in kaligraphischer Handschrift notiert mit hunderten weiterer Verkehrs- und Unfalltoter auf langen Listen in Glaskästen, die im Unterbau des Pyramiden-förmigen Glockenturms der St. Christophorus-Kapelle angebracht sind.
Neben der Funktion als Gedenkort dient St. Christophorus zugleich als Gemeindekirche für den Telgter Ortsteil Raestrup. Die Errichtung geht auf einen Kapellbauverein zurück, der sich schon seit 1921 um eine eigene Kirche bemühte, was den Bewohnern der Bauernschaft den weiten Fußweg nach Telgte ersparen sollte. Wie in der dortigen Wallfahrtskapelle mit dem Gnadenbild der “Schmerzhaften Muttergottes”, so nimmt eine Pietà das Zentrum des kleinen Andachtsraumes ein. Die Skulptur (künstlerisch belanglos, Schöpfer und Alter sind in der Kapelle nicht angegeben) zeigt den in der katholischen Volksfrömmigkeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beliebten Marien-Typus, der den Christus-Leichnam mit der rechten Hand am Kopf umfasst, so dass der rechte Arm der Toten-Figur herabhängt und den Blick auf die stilisierte Lanzen-Wunde des weiß-grauen Corpus freigibt.
So traditionalistisch die Ausstattung mit Kniebank vor dem Gnadenbild anmuten mag, so modern für die damalige Zeit (kurz vor dem zweiten Vatikanischen Konzil mit seiner umfassenden Liturgie-Reform) ist die Gesamtanlage von St. Christophorus, die den in den 60er und 70er Jahren beliebten Bautyp der “Kirche als Zelt” (symbolisch für das Volk Gottes auf dem Weg) in einer anspruchsvollen Beton-Konstruktion aufgreift. Neben dem unverschalt sichtbaren Beton und abstrakt bunten Lichtbändern aus eingegossenen Glasbausteinen mildern die (nicht-tragenden) Wände aus gebrannten Ziegeln, der davon abweichende Bodenbelag aus Terracotta-Fließen und einbetonierte Boden-Kieseln den allzu modernistischen Eindruck.
Die Gestaltung des Gedenkorts in der Erdgeschoss-Zone des pyramidalen Glockturms, der wie die gekappte Turmspitze einer überdimensionierten Dorfkirche vor dem eigentlichen Kirchenzelt steht, ist für den Zweck der Kraftfahrer-Kapelle in Kombination mit der dahinter liegenden Gemeindekirche geschickt und originell arrangiert. Der Gedenkort ist mit einer breiten Glastür versehen, die sich vollständig zur B64 hin öffnen lässt und den Andachtsraum ins Freie öffnet. Nach wie vor bietet die Kapellengemeinde hier jeweils am 1. Sonntag eines Monats nach der Heiligen Messe auch Fahrzeug-Segnungen an.
Die Namenslisten werden monatlich in den Kästen gewechselt. Im Lauf der fast sechs Jahrzehnte sind gut 3000 Namen zusammengetragen worden. Die Eintragung ist kostenlos und erfolgt aus Gründen des Datenschutzes nur auf ausdrücklichen Wunsch der Hinterbliebenen. Eine geografische Beschränkung gibt es nicht, St. Christophorus wird als Sonderkirche mit bewusst überörtlichem Bezug geführt. Seit der Auflösung des ursprünglichen Kapellbauvereins 1974 gibt es ein “Gemeindegremium St. Christophorus Raestrup”, das in Abstimmung mit der Telgter Muttergemeinde St. Marien und dem “Sonntagspastor” aus dem Borromäum Münster das kirchliche Leben der Kapellengemeinde und des Gedenksorts regelt.
Ungewöhnlich ist der Zugang zum eigentlichen Hauptgebäude der Gemeindekirche. Der Glockenturm mit dem Gedenkort steht dem Betongerippe der Zeltkonstruktion mit ihren großflächigen Ziegelwänden nämlich regelrecht im Weg. Der Zugang erfolgt rechts und links des Turms durch zwei Kolonnaden, die allerdings heute eher der Formensprache von Funktionsbauten der 60er Jahre als einem Sakralgebäude zugerechnet würden. Einen Haupteingang hat die Gemeindekirche nicht.
Das eigentliche Kirchenschiff von St. Christophorus ist ein quadratischer Raum, der innen wie außen stark von den pyramidalen Betonstreben bestimmt wird. Wie optisch bereits in der Turmkapelle vorbereitet, spielen auch hier die (großformatigen) Wandflächen aus roten Ziegeln keine tragende Rolle. Für die breiten Lichtbänder, die den Zelt-Charakter der Gebäude- und Dachkonstruktion unterstreichen, wurde einfaches Fensterglas verwendet. Im Kirchengebäude setzt sich der geflieste Bodenbelag der Kolonnaden und der Kapelle nicht fort, der Kirchenraum erscheint als eigenständiges und geschlossenes Gebäude. Der Bodenbelag ist aus dunklem Holz, der Altarraum um eine Stufe aus blank poliertem Stein erhöht.
Aus heutiger Sicht erscheint es erstaunlich, dass es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen der Idee einer “Kraftfahrerkapelle” an der uralten Wegeverbindung von Münster nach Warendorf und der Idee der ersten Autobahnkirchen (1958: A8, Adelsried bei Augsburg, 1959: A2, Exter) gibt. Bei den ersten Autobahnkirchen stand die Idee des sonntäglichen Gottesdienst-Besuchs zunächst im Vordergrund — während ihre heutige Nutzung weit mehr der einer Kapelle für Kurzaufenthalte wie in Telgte entspricht. Wie in den Autobahnkirchen, so liegt auch in St. Christophorus ein Anliegenbuch aus. Es befindet sich vom Gedenkort aus gesehen gleich hinter dem rechten Eingang in das Hauptgebäude.
Die Vorstellung, einen Gedenkort für Verkehrs- und Unfalltote zu errichten, gleichzeitig die Verkehrspolitik der Zeit jedoch nicht wirklich infrage zu stellen, mag heute befremden. 1964, also nur 19 Jahre nach dem Ende Zweiten Weltkriegs, traf der willkürliche Verkehrstod auf eine andere Mentalität. 1964 lag die Zahl der Verkehrstoten in der Bundesrepublik erstmals über 18.000. Bis zum Jahr 1970 stieg sie auf mehr als 21.000 an. Der Tod auf der Straße — heute bei jährlich rund 3000 Toten undenkbar — gehörte gefühlt zum allgemeinen Lebensrisiko der damaligen Wirtschaftswunder-Jahre.
Auch ohne dass sich in der Kirche ein Hinweis auf den Urheber fände, ist das ganze Gebäude Ausdruck eines qualitativ sehr hochwertigen Architekten-Plans. Entworfen hat die “Kraftfahrerkapelle” Eberhard M. Kleffner (1911–2000), der zusammen mit seiner Frau Christa Kleffner-Dirxen (1910–2004) in Münster ein Architekturbüro betrieb, das bis 1980 rund 60 Kirchen baute oder sakrale Bestandsbauten neu gestaltete. Ende der 1940er Jahre verantworte Kleffner den Wiederaufbau des Bischöflichen Hofs am Domplatz in Münster, ab Ende der 50er Jahre bis 1975 wirkte er als Diözesanbaumeister. Kleffner und Kleffner-Dirxen sind keine “Stars” des modernen Kirchenbaus wie die Böhms oder Schwarz im Rheinland geworden, haben jedoch insbesondere in Westfalen und dem Ruhrgebiet erheblich zu einem qualitativ guten Kirchenbau in der Breite beigetragen.
Dem Umstand, dass St. Christophorus sowohl Gemeindekirche wie auch Kraftfahrerkapelle ist, verdankt die Gemeinde eine sehr nützliche Einrichtung, die viele Kirchgänger in anderen Sakralbauten häufig vermissen. Gleich hinter dem linken Eingang des Hauptgebäude führt eine Tür zur Erleichterung ganz profaner Bedürfnisse…
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