Mein Straßenmusik-Sommer

Zwölf Wochen lang habe ich in den Sommermonaten in den Fußgängerzonen vor allem von Dormagen, Hattingen, Leverkusen, Oberhausen, Remscheid und Solingen Gitarre gespielt. Und im nächsten Sommer mache ich es wieder. Nur fange ich dann schon im Frühling an.

Ulli Tückmantel
18 min readSep 6, 2022

Von ULLI TÜCKMANTEL

Samstag, 10 Uhr vor der Rathaus-Galerie am Kopf der Leverkusener Fußgängerzone. Es ist Ende August und gefühlt seit Wochen der erste bewölkte Tag, an dem es nur noch knapp unter 20 Grad warm ist. Nur eine Handvoll Leute sitzen vor einem Café und einer Eisdiele, viele Stühle sind noch umgeklappt. Ich bin zu früh dran, besser wäre ich erst um 11 Uhr gekommen. Jetzt spiele ich vermutlich mal wieder nur für mich, wobei — das weiß man auf der Straße nie.

Leverkusen, an einem Samstag um 10 Uhr Ende August 2022.

Nur wenige Passant:innen kommen in den nächsten 20 Minuten überhaupt dort vorbei. Einigen gefällt, was sie hören. “Sehr schön”, ruft ein Paketbote im Vorbeilaufen. Das kommt pro Spielort zwei bis dreimal vor. Meist sind es Frauen fortgeschrittenen Alters, denen die Stücke gefallen — und sie überhaupt kennen. Damit sind sie klar in der Minderheit. Ich bin heute aber ganz zufrieden. Ich probiere an diesem Tag eine neue Gitarre aus, die Kombination mit dem Verstärker funktioniert gut. Die Tonübertragung ist deutlich besser, ohne dass ich lauter werden muss. Das Klassik-Programm, mit dem ich unterwegs bin, entspricht großteils den Stücken, die ich im Februar als Gitarren-Tabulatur bei Books on Demand veröffentlicht habe (den Link gibt es hier): vor allem Bach, ein bisschen Beethoven und bei Bedarf noch anderes. Ich starte meist mit dem Motiv des Adagio Cantabile aus der “Pathétique” von Beethoven. Das ist für das Laufpublikum ein guter Richtungshinweis: Hier kommt jetzt keine Schrammel-Gitarre mit Gesang. Weiter mache ich dann häufig mit dem früher Bach zugeschriebenen Menuett in G-Dur (BWV Anh. 114) von Christian Petzold, das ebenfalls vergleichsweise viele erkennen, und dann hängt es von meiner Lust und Laune sowie der Publikumsfrequenz ab, wie es weitergeht. Bis die 20 Minuten herum sind und ich weiterziehe.

Meine ursprüngliche Vorstellung, diese regelrechten “Schlager” der Klassik gehörten in der deutschen Bevölkerung irgendwie noch zur Allgemeinbildung (oder hätten es jemals), ist beim Spielen auf der Straße schnell und schmerzlos gestorben. Mein Highlight ist im Juli ein etwas nachlässig gekleidetes Ehepaar in der Fußgängerzone von Domagen. Ich spiele gerade den Bach-Choral “Jesus bleibet meine Freude” aus der Kantate BWV 147. Der Mann schnappt zwei Takte auf, bleibt stehen und sagt dann zu seiner Frau: “Bekloppt. Spielt der Jeck hier im Sommer Weihnachtslieder.” Den allermeisten Gesichtern sehe ich aber an, dass sie keine Ahnung haben, was sie da hören. Aber fast allen gefällt es irgendwie.

Probenraum unter freiem Himmel: Das rechte Rheinufer im Frühsommer 2022.

Aus der zunächst halb scherzhaften Idee, mit dem Programm der “Angeber-Tabs für Anfänger:innen” selbst auf die Straße zu gehen (Link siehe im vorhergehenden Absatz), wird ab Februar langsam ein handfester Plan. Und das bedeutet vor allem: Üben, üben, üben. Und: Ich muss mein Repertoire erheblich erweitern. Denn die meisten klassischen Gitarrenstücke sind deutlich kürzer als die 2 Minuten 30, die einem Pop-Song zugestanden werden. Und: Ich muss mein Equipment natürlich upgraden (am Ende werden es zwei neue Gitarren plus Zubehör sein). Um mein häusliches Umfeld möglichst wenig zu nerven, ziehe ich in Ermangelung eines halbwegs schalldichten Zimmers ans Rhein-Ufer um, wann immer Freizeit und Wetter es zulassen. Dort störe ich niemanden, es ist eine gute Vorbereitung und außerdem spiele ich wirklich gerne draußen. Gelegentlich kommen Spaziergänger:innen mit Hunden vorbei. Manche fangen ein Gespräch an, manche schütteln den Kopf. Manchmal, wenn ich ausprobiere, wie viel Wumms im Zweifelsfall in meinem Mini-Verstärker steckt, winken Leute von den Schiffen herrüber.

Vollgepacktes Gigbag, Falthocker, Notenständer: Bei den ersten Versuchen habe ich noch auf den Gitarrenständer verzichtet. So sieht die Straßengitarre inzwischen auch aus.

So umständlich, wie ich es betreibe, wird das Musikmachen auf der Straße vor allem zur Schlepperei: Die Gitarre (ich lege mir für diesen Sommer zunächst eine sehr billige Konzertgitarre mit eingebautem Tonabnehmer zu), einen batteriebetriebenen Mini-Verstärker, Kabel, Ersatz-Saiten, Reserve-Akkus, Noten und ein Stimmgerät habe ich im Gigbag verstaut. Dazu nehme ich noch einen faltbaren Hocker, einen Gitarren- und einen Notenständer mit. Die Kombination aus gezupfter klassischer Musik und einer Gitarre mit Nylon-Saiten macht den kleinen Verstärker unumgänglich — man hört sonst auf der Straße schlicht nichts. Das ist zugleich die größte Einschränkung bei der Wahl der Spielstätten. Denn die meisten Städte in NRW (und wohl auch bundesweit) haben inzwischen den Einsatz von Verstärkern verboten. Die jeweilige Lokalpolitik nickt das häufig widerspruchslos ab. Dass ein Verstärker-Verbot im Ergebnis gar nicht die Lautstärke begrenzt, sondern vor allem komplette Instrumenten-Gruppen und Musikstile von der Straße verbannt, stößt auf keinen politischen Widerstand. Denn Straßenmusik wird von der deutschen Lokalpolitik nicht als Kunst betrachtet (es gibt ja kein Billig-Buffet mit wichtiger Rede und schlechtem Sekt dazu), sondern als störender Lärm. Deshalb interessieren sich die Kulturämter nicht dafür, womit aus Straßenmusik eine Ordnungsangelegenheit wird, eine Störung, die man regeln muss. Und das Muster, nach dem Ordnungsämter Lärmprobleme regeln, ist immer die Friedhofssatzung. Etliche Städte definieren das öffentliche Musizieren inzwischen als “Sondernutzung” der öffentlichen Anlagen und Straßen.

Die Bundes- und Landesgesetze lassen den Kommunen leider reichlich Spielraum, das städtische Monopoly willkürlich zu Lasten der Straßenmusiker zu entscheiden — gerne garniert mit gegenteiligen politischen Verhöhnungen, wie “Straßenmusikanten beleben unsere Stadt und erfreuen ihre Zuhörer” (Stadt Krefeld, verlangt einen Abstand von 50 Metern zu den Eingängen öffentlicher Gebäude und von 20 Metern zur nächsten Kreuzung, ganze Instrumenten-Gruppen sind verboten) oder “Straßenmusiker gehören als belebendes Element zum Bild einer jeder Stadt und sind auch in Duisburg willkommen”. Von dem peinlichen Grammatikfehler abgesehen, soll das “belebende Element” in Duisburg erstmal 25 Euro Verwaltungsgebühr entrichten, wahrscheinlich als Dank für das Willkommen. Nahezu überall gilt: Längstens 15 bis 30 Minuten darf an einem Ort gespielt werden, dann müssen die Musiker:innen weiterziehen, meist 50 bis 300 Meter, auf jeden Fall äußer Hörweite vom vorherigen Spielort.

Erster Versuch: Dormagen, an einem Samstagnachmittag Ende Juni.

Meinen allerersten Versuch starte ich Ende Juni in der Fußgängerzone von Dormagen. Wie viele Städte hat Dormagen seine Regeln für Straßenmusik in einer “Ordnungsbehördlichen Verordnung zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung” festgeschrieben: Nach 30 Minuten muss ich den Standort wechseln, um mindestens 150 Meter, sonst gibt es weiter keine Regeln. Das ist ideal für einen Test, ich wähle einen Samstagnachmittag, und ich bin nicht allein. Ein osteuropäischer Geiger spielt am zentralen Platz der Fußgängerzone sehr leise vor sich hin; im Kasten vor ihm kein Geld. Ich ziehe möglichst weit von ihm weg, lasse mich vor dem Ausgang einer Einkaufspassage zur Fußgängerzone nieder — und bin unfassbar nervös. Und dankbar, dass hier niemand richtig zuhört. Ich versemmele Stücke, die ich zuhause und bei den Proben am Rheinufer nahezu im Schlaf beherrsche. Meine Griffhand zittert, die Spielhand trifft die falschen Saiten. Ich möchte eigentlich sofort wieder einpacken und weg. Wenige Passant:innen laufen vorbei, es interessiert niemanden, was ich hier tue.

Ich treffe auf einen jungen Klarinettisten, der von seinem Freund auf einem Cajon rhythmisch unterstützt wird. Die Stücke, die er spielt, hat er von seinem Vater gelernt. Es ist das Repertoire von Unterhaltungskapellen der 50er und 60er Jahre. “Bésame Mucho”, “Marina”, die “Caprifischer”, aber auch “Guantanamera”. Der junge Mann spielt richtig gut. Nur nützt das heute in Dormagen nichts. Für die Dormagener:innen ist der Tag irgendwie durch. Später in diesem Sommer werde ich ihn in Leverkusen wiedertreffen.

Anfang Juli in Essen: Wirklich schöne Spielsituationen, regelrecht dankbares Publikum — am zweiten Spielort nach fünf Minuten unterbunden von Ordnungsamt und Polizei. Die Doppelstreife räumt ein: Ich sei zwar der Leiseste, aber Verstärker nun einmal verboten.

Der Flickenteppich der Regeln (einen guten Überblick, allerdings mit Schwerpunkt auf das Bundesland Sachsen, bekommt man in einer juristischen Bachelorarbeit von 2020, Link zum PDF hier) macht es für Straßenmusiker:innen zu einem reinen Glücksspiel, ob sie halbwegs unbehelligt Musik machen dürfen oder von breitschultrigen Mitarbeitern (es sind nie Frauen) der Ordnungsämter vertrieben werden. Völlig absurd läuft es Anfang Juli in Essen. Bei dem nun wirklich nicht zur Allgemeinbildung gehörenden Kantaten-Motiv “Schafe können friedlich weiden” (BWV 208) bleibt ein jüngerer Mann hingerissen stehen, hört mit geschlossenen Augen zu und seufzt dann: “Bach ist doch immer noch der Größte.” Eine Frau summt ergriffen den Choral “Jesus bleibet meine Freude” mit — und dann hat die Doppelstreife von Polizei und Ordnungsamt ihren Auftritt. Der Verstärker sei verboten, bitte einpacken. Meinen Hinweis, der Bettel-Trommler, der leicht wirre Russe mit dem rollbaren Klavier und der etwas entrückte Handpan-Spieler, die zu diesem Zeitpunkt in der gleichen Fußgängerzone unterwegs sind, seien ohne Verstärker allesamt lauter als ich (und spielten objektiv auch noch schlechter), bestätigen die beiden Herren. Aber der Verstärker sei nunmal verboten. Die etwas wackelige Rechtskonstruktion der Stadt Essen (sie duldet Straßenmusik, hat ihre Regeln aber in keiner Verordnung abgesichert) ruht auf der schlichten Hoffnung, dass schon kein:e Straßenmusiker:in vor ein Verwaltungsgericht ziehen wird. Und das funktioniert. Denn schon das Einreichen der Klage würde in NRW mehr als 400 Euro kosten. Das können Straßenmusiker:innen, die wirklich auf den Schutz vor städtischer Willkür angewiesen wären, sich schlicht nicht leisten.

Langenfeld Mitte August 2022: Offiziell hat die Stadt kein eigenes Regelwerk erlassen, in der Praxis exekutieren Mitarbeiter des Ordnungsamt ein ungeschriebenes Langenfelder Landrecht.

In den folgenden Wochen maile und telefoniere ich mich quer durch städtische Ordnungsämter, wenn die Regeln in der jeweiligen “Ordnungsbehördlichen Verfügung zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung” nicht klar formuliert sind. Aber auch das hilft nicht immer. Besonders ärgerlich (für mich) läuft es in Langenfeld. Dort gilt nach schriftlicher Auskunft des Ordnungsamts angeblich nur das NRW-Landesrecht (das kein voraussetzungsloses Verstärkerverbot kennt). Ach so: Man hätte aber gern, dass nach 15 bis 20 Minuten zur Vermeidung von Beschwerden der Standort gewechselt werde, und dienstags und freitags bitte nicht auf der Marktfläche. Am ersten Spielort fliegen nicht nur innerhalb von 12 Minuten neun Euro in mein Gigbag, ein Teil der Zuhörerinnen im Vorbeigehen ist regelrecht hingerissen. Das Spielen macht für dieses Publikum richtig Spaß. Als ich nach 20 Minuten packe, kommen die Herren des Ordnungsamts vorbei, schließen von dem Kabel auf einen Verstärker (den ich aufgrund technischer Probleme gerade gar nicht nutzen kann) und erklären, der sei verboten. Eine Rechtsgrundlage können sie natürlich nicht vorweisen (“das ist halt verboten”), dann solle ich einfach mit ins Rathaus kommen und mit ihrem Chef sprechen. Danke, nein. Der zuständige Mitarbeiter des Ordnungsamts schlägt später vor, ich könne ja einen kostenpflichtigen Antrag stellen. Und den werde er dann ablehnen.

Hattingen: Auch hier sind Verstärker verboten, aber ich erhalte testweise für diesen Sommer eine jederzeit widerrufliche Ausnahmegenehmigung, falls sich jemand beschwert.

So geht das nicht weiter. Ich muss mich jetzt entscheiden, ob ich Zeit und Nerven an Ordnungsämter vergeuden oder spielen will. Denn davon abgesehen, dass ich wirklich keine Lust habe, am Ende dieses Sommers mehr Schriftsätze verfasst als Musik gemacht zu haben – es geht ja auch ganz anders. Hattingen ist mit rund 150 mittelalterlichen Fachwerkhäusern eine der schönsten Städte des südlichen Ruhrgebiets. Die historische Altstadt mit der ausgedehnten Fußgängerzone bietet noch viele nette Geschäfte, die es anderswo längst nicht mehr gibt. Die Stadt ist bei Touristen und Einwohnern der Nachbarstädte zurecht sehr beliebt. Und hier macht der Bürgermeister von seinem Recht Gebrauch, versuchsweise eine Ausnahme zuzulassen: Weil meine klassische Gitarre gezupft nicht zu hören ist, darf ich ausnahmsweise meinen Mini-Verstärker benutzen — unter Einhaltung aller anderen Regeln und solange sich niemand beschwert. Und das tut niemand, in all den Wochen an all den Plätzen nicht. Alles andere wäre mir auch peinlich. Ich spiele weder auf der Straße, um hier die Kunstfreiheit gegen die Anwohnerbedürfnisse zu verteidigen, noch um irgendwen zu verärgern. Ich halte auch nichts davon, auf Erlaubnisse zu pochen, wenn man sehr leicht im Gespräch Einverständnis und Entgegenkommen herstellen kann.

Hattingen bei 32 Grad: Nette Leute, schattige Straßen — und eine verrückte Begegnung.

Hattingen macht richtig Spaß. Eine auswärtige Besucherin fragt nach einem Kärtchen; ob ich auch auf privaten Feiern spiele und was das koste. Die Leute sind freundlich, den Tages-Tourist:innen gefällt der Soundtrack zur schönen Stadt. Mir fällt auf, dass die, die ich für Hattinger:innen halte, alle sehr nett, aber auch nicht übermäßig begeistert sind. Den Grund lerne ich am dritten Spielort kennen: Ein russich-ukrainischer Profi-Gitarrist, mehrfach preisgekrönt, Kurator von Konzert-Reihen, Komponist, Musiklehrer in Essen, tritt seit Jahren regelmäßig als Straßenmusiker in Hattingen auf (und leider auch bei Querdenkern, und Corona-Leugnern, weshalb ich ihn hier nicht verlinke). Er führt auf einer monstermäßigen Gitarre kurz vor, was er kann, kritisiert meinen Fingersatz, lädt mich zu einem Konzert ein und sucht sich dann einen etwas entfernteren Spielort. Während ich in anderen Städten mit klassischer Musik praktisch ein Alleinstellungsmerkmal habe, bin ich hier bloß der nicht ganz so begabte Bach-Interpret… Und ich werde natürlich trotzdem wieder hinfahren. Auf dieser Sommer-Tour ist Hattingen einfach der schönste Spielort.

Vor Schloss Burg in Solingen, Ende August 2022

Ende August 2022 bin ich seit jetzt acht Wochen immer wieder in den Fußgängerzonen an Rhein und Ruhr unterwegs und spiele auf der Straße Gitarre, übrigens überwiegend zum Unverständnis meines Umfelds. Offenbar gehört es sich für dickere ältere weiße Herren nicht, außerhalb von Coverbands Amateur-Musik zu machen. Als ich jung war, war “Straßenmusik” ein cooles Ding. Damals habe ich mich aber nie richtig getraut. Heute rangiert “Straßenmusik” in der öffentlichen Wahrnehmung kurz vor Bettelei (und es gibt wirklich knallhart organisierte Bettelmusik). Sozial unterhalb von Straßenmusik und Bettelei ist eigentlich nur noch Pfandflaschen-Sammeln angesiedelt. In Solingen, wo ich mich vor dem Eingang von Schloss Burg niederlasse, fragen mich die Kinder eines SUV-Fahrers: “Bist Du arm?” Ich sitze dort in Marken-Polo und -Jeans, trage einen teuren Strohhut gegen die Sonne und spiele gerade eines meiner Lieblingsstücke, die Bourrée in e-moll von Johann Sebastian Bach (BWV 996) aus seiner Lauten-Suite. In meinem Gigbag liegen 4,30 Euro und der mitleidige Blick der Besserverdienenden-Kinder. Ich nehme mir vor: Treffe ich unterwegs irgendwo auf Musiker:innen, die die paar Euro im Kasten wirklich brauchen, baue ich gar nicht erst auf.

Oberhausen im August 2022: Die härteste Meile im Kampf um Aufmerksamkeit für meine Sorte Straßenmusik

Die Kinder auf der Straße, die das Centro im ehemaligen Zentrum Oberhausens als Fußgängerzone übrig gelassen hat, haben ganz andere Fragen. Darf ich auch mal spielen? War die Gitarre teuer? Ist das Dein Beruf? Während die Kinder hier neugierig auf den Gitarrenspieler und das Instrument sind (und sehr überrascht, dass ich zur Musik nicht singe), müsste ich wahrscheinlich mindestens Pyrotechnik einsetzen, um die Aufmerksamkeit der Erwachsenen auf mich zu ziehen. Auch hier gibt es natürlich einzelne Passant:innen die nicht nur überrascht sind, dass hier überhaupt jemand Straßenmusik macht, sondern dann auch noch klassische.

Andere Straßenmusiker:innen treffe ich in Oberhausen nicht. Manchmal suchen Leute das Gespräch oder etwas anderes. Vor meinem Notenständer baut sich ein schmächtiger Trunkenbold auf. “Dat bringt doch auch nix, oder? Wat verdienze denn damit inner Stunde?” Ich versuche es mit leiser Freundlichkeit, er kürzt seine Einleitung ab und kommt zur Sache. Dass wir sowieso “von denen” verarscht werden, dass es eh bald knalle, und dass er das auch hoffe, damit “die” alle mal aufwachten. Ich spiele einfach weiter, er redet einfach weiter. Bis eine resolute Dame ihn verscheucht: “Lass den Mann in Ruhe, Du Quatschkopp! Alles Mist, was Du redest, hau einfach ab!” Und dann mütterlich zu mir: “Jetzt kannze weiterspielen, Jung.” Das ist in Oberhausen schon fast so etwas wie eine Liebeserklärung.

Straßenmaler- und Straßenmusikwettbewerb in Geldern, Anfang August.

Anfang August freue ich mich auf zwei Wochenend-Tage Straßenmusikwettbewerb in Geldern — nur währt die Freude beim Kontakt mit der Realität nicht lange. Ich bin nicht der einzige, der schon am ersten Tag völlig entnervt wieder abreist. Die Organisatoren haben für die Straßenmusiker:innen Flächen ausgewiesen, die viel zu nah beeinander liegen. Alle behindern sich akustisch gegenseitig. Und das liegt vor allem daran, dass die Organisatoren Bands und Musiker:innen zugelassen haben, die hier vielleicht für zwei Tage Musik auf der Straße machen, aber keine Straßenmusik (zumindest keine, die in irgendeiner NRW-Stadt ohne den Rahmen eines Festivals jemals genehmigt würde). Bands schleppen halbe PA-Anlagen an, der Standort-Wechsel funktioniert nicht, es gibt viel zu viele Musiker:innen für viel zu wenige Spielflächen, und ich stoße zum ersten mal im wirklichen Leben auf Vertreter:innen der Generation “Jugend musiziert 4.0”. Für diesen ambitionierten Instagram-Typus ist die Wirklichkeit nicht so wichtig. Hauptsache, die Fotos sind gut und die “Likes” stimmen. Drei von ihnen, die man auf der Straße kaum gehört hat, wählt die Jury am Ende unter die ersten drei Plätze. Auf der Straße, nur mit Gitarre und Stimme, sind sie im Lärm der anderen einfach untergegangen, auf Instagram ist alles schön. Für einige, die hier mehr auf Hut-Geld als den Wettbewerb spekuliert haben, ist die Enttäuschung richtig groß. Bei so viel Konkurrenz “verdient” niemand mehr was. Ich fahre an den Rhein und übe in Ruhe nochmal die “Air” von Händel und eine sehr effektvolle Bearbeitung des “Aranjuez”-Motivs von Rodrigo.

Remscheid im August 2022: Viele nette Gespräche, Neugier und positive Resonanz auf die Musik.

Von Remscheid verspreche ich mir ehrlicherweise nicht sonderlich viel — und dort habe zu meiner Überraschung mitten in der Woche einen der schönsten Spieltage des Sommers. Nirgendwo führe ich so viele nette Gespräche, nirgendwo sind Neugier und Nachfragen so groß wie hier. Ich lerne einen pensionierten Bestatter und zwei freundliche Zeug:innen Jehovas kennen. Erstmals kommt jemand von einer Café-Terrasse herüber und bedankt sich für die schöne Musik zum Kaffee. Hier hören sogar Jugendliche für ein oder zwei Minuten zu. Es fällt mir wirklich schwer, meinen guten Standort (nach ein bisschen Überziehung) dort zu verlassen.

Am nächsten Spielort, ein Stück die Fußgängerzone herunter, denke ich über die Instagram-Straßenmusizierer:innen nach. Da mein Auftritt ja ohnehin alles anders als unauffällig ist, sollte ich mich vielleicht viel offensiver branden. Ich könnte ja in einem Shirt mit der Aufschrift “Bach on Backstreets. Tour 2022” hier sitzen, noch ne freche Optik in das Gigbag — fertig. Vielleicht “Jauchzet! Frohlocket!” oder so. Und wieder habe ich eines dieser Comic-Erlebnisse. Vor mir hält ein junger Mann auf einem E-Scooter. Adidas-Klamotten, Herren-Umhänge-Täschchen, Baseball-Mütze. “Alter, cooler Song, ist das von den Beatles?” Nein, Bach. “Klingt aber so ähnlich, oder?” Nicht wirklich, vielleicht ganz entfernt. “Aber weißt Du was ich meine?” Ich spiele kurz “Blackbird” an. “Sag ich doch, voll ähnlich! Wie heißt der andere nochmal?” Bach. “Cool!” Dann fährt er weiter. Ich glaube, ich mache das mit dem T-Shirt.

Vor dem Rheintor an der Feste Zons, Dormagen: Auf Kultur-Touristen ist Verlass. Es gibt sogar Applaus.

Nach dem verpatzten Auftakt muss ich nochmal nach Dormagen, und diesmal läuft es erheblich besser. Leute halten an, hören kurz zu, signalisieren Zustimmung. Nach einer halben Stunde packe ich ordnungsgemäß ein und fahre nach Zons, wo noch nicht viel los ist. Vor dem Rheintor erlebe ich zum ersten Mal auf dieser Tour, dass Leute im Halbkreis um mich stehen und dazu klatschen. Zwei betagte englische Touristinnen würden mich gern zum Kaffee einladen. Bach, so lerne ich, öffnet nämlich die Seele (nur nicht unbedingt das Portemonnaie). Während ich am Anfang keine Vorstellung davon hatte, wieviel “Hut-Geld” pro Spieltag so zusammen kommen könnte, weiß ich inzwischen: Straßenmusik, von mir (alter dicker weißer Mann) mit meinem Programm (Gezupfte, klasssiche Gitarrenmusik), ist ein sehr schönes Hobby, das sich aber nicht einmal im Ansatz selbst trägt.

Wenn es gut läuft, sind im Schnitt die Benzin- und Parkkosten gedeckt; ein Kaffee nach dem Straßenauftritt ist oft schon Zuschuss. Ersatz-Investitionen (im Laufe des Sommer gehen ein Hocker, ein Gitarrenständer und zwei Instrumenten-Kabel zu Bruch) sind unter finanzieller Betrachtung rausgeschmissenes Geld, und dass ich mir für die letzten Sommerwochen doch noch eine etwas bessere Gitarre gönne, ist in dieser Hinsicht kompletter Wahnsinn. Straßenmusik, so wie ich sie mache, bedeutet oft: Du fährst in einem altersschwachen Auto bis zu 200 Kilometer eine Ausrüstung für 500 Euro durch die Gegend, um dann nach zwei oder drei Stunden 12,60 Euro im Koffer zu haben.

Bergisch-Gladbach: Laut städtischer Verordnung gibt es hier kein Versträker-Verbot — laut eines Mitarbeiters des Ordnungsamts dagegen schon (der glücklicherweise erst, auftaucht, als ich am letzten Spielort fast durch bin.)

Manchmal denke ich, es lastet ein Fluch auf dieser Straßenmusik-Tour: An einem der letzten richtig warmen Samstage, es ist schon Anfang September, liegt Bergisch Gladbach günstig an meiner Route. Laut der berühmten “Ordnungsbehördlichen Verordnung” ist hier ein Verstärker nicht verboten. Es wird ein richtig schöner Nachmittag. Ich lerne nette Leute kennen: Einen 86-Jährigen, der sehr bedauert seine schöne Konzertgitarre verschenkt zu haben, einen Gitarristen, der sich selbst auf der Straße ausprobiert, einen Klassik-Fan, der Schlagzeug spielt. Das Programm kommt beim Lauf- und Sitzpublikum in den Cafés gut an. Ich frage zwei Bäckerei-Mitarbeiterinnen, in deren Nähe ich spiele, vorsichtshalber nach einer Weile, ob es irgendwie zu laut ist oder nervt. “Nee, das ist doch Entspannung pur. Wir würden uns melden, wenn es nervt.” Eine Zuhöhrerin ist offenbar so angetan, dass sie mir einen 10-Euro-Schein in das Gigbag wirft. Das ist mir noch nie passiert.

Wie vorgeschrieben wechsele ich alle 30 Minuten den Standort. Am vierten bin ich schon fast am Ende angekommen, als ein Mitarbeiter des Ordnungsamts auftritt… Wie schon in Essen und in Langenfeld hilft es weder, ihn auf die Absurdität seines Ansinnens noch auf die fehlende Rechtsgrundlage hinzuweisen… ich packe ein und bin hin und her gerissen. Soll ich die letzten paar Minuten nicht einfach abhaken? Schon wieder Schriftverkehr mit einer Stadtverwaltung? Ich bin es eigentlich langsam wirklich leid… Und zwar sowohl diese ständigen ermüdenden Auseinandersetzungen als auch dieses selbstgebastelte Landrecht…

Noch einmal Leverkusen

Weil es gerade auf dem Weg liegt, spiele ich noch einmal in Leverkusen. Es ist sehr entspannt, es gibt wenig interessiertes Publikum, aber auch keinen Stress mit Angestellten der Stadtverwaltung. Die spärlichen Kontakte sind freundlich, immerhin die Parkgebühren kommen rein, und ich treffe den jungen Klarinettisten und seinen Freund aus Dormagen wieder. Sie spielen die Café-Terrassen mit ihrem Unterhaltungskapellen-Programm an, der Freund geht anschließend mit dem Hut herum. Und, läuft es? “Die haben ganz böse geguckt”, sagt er etwas geknickt. Ich könnte ihm jetzt sagen, dass es bestimmt nicht an seiner Musik liegt, aber was wäre das für ein Trost? Mach Dir nichts draus, das ist bloß Rassismus? Ich versuche das Thema ein bisschen zu umgehen. Hat er eigentlich ein Gespür dafür, warum die Leute jeweils Geld geben? Aus Anerkennung? Aus Mitleid? Er lacht laut los. “Das ist mir völlig egal. Würde ich was anderes verkaufen, würde ich ja auch nicht fragen, warum die das kaufen. Hauptsache, sie tun es.” Wir versuchen, mal was zusammen zu spielen; Guantanamera. So richtig klappt es nicht, aber wir haben zu Dritt eine nette Pause. Wir Straßenmusiker unter uns. Die Jungs wollen weiter und sich später noch mit einem Freund zusammentun, der Akkordeon spielt. Opladen soll gut sein. Café an Café in der Fußgängerzone. Da wollte ich eigentlich auch noch hin. Muss ja nicht heute sein. Ich hoffe, die Jungs bekommen wenigstens das Abendessen zusammen.

Die Schatten werden länger, der Sommer ist bald wirklich vorbei. Zeit für eine Bilanz…

So langsam werden jetzt die Tage weniger, an denen es mir noch warm und trocken genug für Musik auf der Straße ist. Zeit für eine Bilanz also. Ich hatte viele schöne Spieltage, die mir richtig Spaß gemacht haben, und das möchte ich auf jeden Fall fortsetzen — so, wie es mir gefällt. Zwischenzeitlich war ich geneigt, das Repertoire etwas populärer zu gestalten (mehr “Für Elise”) in der Hoffnung auf etwas breiteren Publikumszuspruch. Das werde ich sein lassen. Ich habe in all den Wochen nicht eine einzige negative Resonanz erfahren. Nicht von Passant:innen, nicht von Mitarbeiter:innen der Geschäfte in den Fußgängerzonen, von niemandem. Und bis zum nächsten Frühjahr ist ja reichlich Zeit noch mehr Stücke zu üben, die ich schon immer mal spielen wollte — und mit denen auch niemand anderes auf die Straße geht, weil sie eigentlich zu filigran und zu mühsam für Straßenmusik sind.

Was mich wirklich nervt, sind die Diskussionen mit den jeweiligen Herren vom Ordnungsamt. Ich muss künftig vorher eindeutig klären, ob und wo ich so spielen darf, wie ich es möchte (und wie es den Leuten ja offenkundig gefällt). Und ich muss mir überlegen, ob ich dafür nicht auch etwas konfliktbereiter sein und mir zur Not lokalpolitische Unterstützung suchen muss. Das wäre sogar im Interesse der Städte, deren ordnungsamtlich simuliertes Engagement gegen “Lärm” ja oft nichts ist als der Verdeckungsversuch ihrer Hilflosigkeit gegenüber echten Problemen. Köln hat inzwischen rund um den Dom vier “Spielplätze” von 8 Quadratmetern mit einem Notenschlüssel markiert. Dort soll künftig ein Dezibel-Alarm sofort dem Ordnungsamt melden, wenn einer zu laut spielt. Während die Musik eingezäunt wird, verliert Köln gerade den Neumarkt an eine nicht mehr beherrschbare Drogenszene, von der erhebliche Kriminalität ausgeht. Und das ist mit den Säufer-, Drogen- und Bettel-Banden in vielen Städten nicht anders.

Wer aus Hilf- und Ideenlosigkeit komplette Instrumenten-Gruppen von der Straßenmusik aussperrt, statt mit den Musiker:innen über Qualität und Lautstärke zu sprechen (hallo, Kulturämter?), der will ja geradezu, dass am Ende nur noch halbbegabte Schrammel-Gitarrist:innen “Country Roads” singen. Dabei hätten die Kommunen aufwertende Konzepte bitter nötig, die auf den Bedeutungsverlust der Innenstädte als Geschäftsraum antworten und dem Attraktivitätsverlust nach zweieinhalb Pandemie-Jahren und kriegsbedingtem Konsum-Rückgang etwas entgegensetzen — und zwar nicht nur diese einfallslose Festivalisierung von allem.

In einer etwas abgehobenen kultursoziologischen Arbeit über “Straßenmusik als urbane Praxis und die Aufteilung der Klänge” lese ich, die Praxis der Straßenmusik formiere sich als ein “diskursiver und klanglicher Streit um die Aufteilung des Sinnlichen im Stadtraum”, und den beiden idealtypischen Sinnesmustern könnten jeweils ordnende/legitimierende (voicing) oder störende/delegitimierende (noising) Elememte zugeordnet werden. Aha.

Muss ausgerechnet mich das alles überhaupt interessieren? Ich wollte doch nur im Sommer in meiner Freizeit ein bisschen Musik auf der Straße machen. Wo jetzt der Herbst kommt, fange ich allerdings an zu überlegen, ob und was ich eigentlich im Winter spielen könnte. Es freut sich in den Fußgängerzonen ja nicht jede:r über diese klebrige Bratwurst-Beschallung Marke Weihnachtsmarkt… Eigentlich eine sehr gute Zeit für Bach… Pachelbels Kanon in C könnte ich auch mal wieder üben… Oder diese fast unbekannten Barock-Stücke des noch unbekannteren von Johann Anton Losy… und wahrscheinlich ist es dann sowieso viel schneller wieder Frühling, als ich gerade denke.

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Ulli Tückmantel

Liest, schreibt & spricht, früh in den Journalismus abgerutscht, kann auch Bücher, hauptberuflich Pressesprecher der Bezirksregierung Münster.